Dienstag, 12. April 2016
Wir Comboni-Missionare, Comboni-Schwestern, Mitglieder des Comboni-Säkularinstituts und Laienmissionare aus den verschiedenen europäischen Nationen haben uns vom 29. März bis 2. April in Limone zum 10. Symposium über die Mission getroffen. Dabei haben wir uns mit dem Thema “Migration und Mission” beschäftigt. Mit diesen Zeilen möchten wir mit der Comboni-Familie einige Überlegungen und Erfahrungen teilen, die wir im Verlauf dieses Treffens gemacht haben. [...]

 

Symposium von Limone 2016
“Migration und Mission”

Schreiben an die Gemeinschaften der Comboni-Familie in Europa

Wir Comboni-Missionare, Comboni-Schwestern, Mitglieder des Comboni-Säkularinstituts und Laienmissionare aus den verschiedenen europäischen Nationen haben uns vom 29. März bis 2. April 2016 in Limone zum 10. Symposium über die Mission getroffen. Dabei haben wir uns mit dem Thema “Migration und Mission” beschäftigt. Mit diesen Zeilen möchten wir mit der Comboni-Familie einige Überlegungen und Erfahrungen teilen, die wir im Verlauf dieses Treffens gemacht haben.

Das Beisammensein war geprägt von großer Brüderlichkeit und Offenheit. Wir haben uns mit dem Phänomen der Migration auseinandergesetzt, das täglich wie nie zuvor an unsere Türen klopft und uns hinterfragt. Der aus Tunesien stammende Abdelkarim Hannachi, Dozent an der Kore Fakultät von Enna für Human- und Sozialwissenschaften und an der Summer School of Middlebury College, USA, hat uns mit seiner Sachkenntnis und Leidenschaft erleuchtet und geholfen, unsere Überlegungen und Erfahrungen auszutauschen, die wir im Dienst an den Migranten machen.

Unsere Überlegungen und unser Austausch haben sich mit zwei untereinander verflochtenen Aspekten beschäftigt: Kritische Einsicht in den Notstand der Einwanderung und Ermittlung von Möglichkeiten, als Comboni-Missionare unseren evangelischen Beitrag zu leisten.

1. Eine wahrheitsgetreuere und empathische Deutung der heutigen Einwanderung

Wir sind uns tiefer bewusst geworden, dass das Phänomen der Einwanderung komplex und dramatisch ist. Wir müssen es “anders” deuten als es die sozialen Kommunikationsmittel tun.

Dieses Phänomen muss in seiner ganzen Reichweite betrachtet und seinen tiefen Ursachen und vielfältigen Aspekten Rechnung getragen werden. Der heutige Notstand muss vor allem in die lange Abfolge von ungerechten und repressiven Beziehungen zwischen Völkern und Kulturen, zwischen Nord und Süd (jahrhundertealte Sklaverei, Kolonialismus/Neukolonialismus, Ausbeutung) gestellt werden. Ein weitverzweigtes Netz von Mittäterschaft, das Kriege für den Waffenhandel ausnützt, und der Dynamismus des weltweiten Finanzsystems müssen schonungslos aufgedeckt werden. Die Verwestlichung der Welt und die Einwanderung sind Teile eines gleichen Prozesses. Der Wohlstand und Überfluss in den Ländern des Nordens und die Knappheit und Armut in den Ländern des Südens sind wie zwei kommunizierende Gefäße. Eine vom Profit gesteuerte Wirtschaft hat Völker von „Bürgern“ und Völker von „Nicht-Menschen“ geschaffen und das natürliche Habitat ausgeplündert und verseucht. Die schwere Verantwortung der einzelnen Regierungen, die die Menschenrechte verletzen und den Prozess der Demokratisierung ersticken, darf natürlich nicht kleingeredet werden. Der heutige Notstand der Migration ist jedoch auch die Folge eines politischen und wirtschaftlichen Systems, das wir in die Welt gesetzt haben, und unserer Art und Weise Güter zu produzieren und zu verbrauchen. Das Symposium hat auch klar aufgezeigt, dass die Migration meistens vom Überlebenswillen und vom Bedürfnis nach einer dauerhaften „Unterkunft“ ausgelöst wird. Die Migrationsströme sind ein “struktureller” Faktor unserer globalen Gesellschaft und deswegen unvermeidlich, unaufhaltbar und schwer kontrollierbar.

Gleichzeitig soll man der Einwanderung aufgeschlossen gegenüberstehen und sie nicht bloß als ein Problem betrachten, sondern auch als eine Ressource. Dabei geht es nicht so sehr um den wirtschaftlichen Aspekt, der aber trotz gegenteiliger Meinung für die Gastländer positiv ausfällt. Leider wird dieser Profit nicht unter den Gemeinden verteilt, sondern kommt nur wenigen zugute. Auf dem Rücken der Einwanderer werden Geschäfte gemacht und so entbrennt ein Krieg unter den Armen. Wir denken vielmehr an die Tatsache, dass uns die Anwesenheit der Migranten neue Horizonte auf unserem Planeten auftut, der zum „globalen Dorf“ geworden ist, und uns über unseren Ethnozentrismus hinausführt. Es gilt, in diesem globalen Dorf den vorrangigen Ort der menschlichen Existenz zu erkennen, in dem der eine vom anderen abhängt und der eine für den anderen verantwortlich ist. Die gegenseitige Integration wird Zeit und geduldige und ständige Hilfestellung brauchen. Denn einerseits müssen fremdenfeindliche Widerstände und Vorurteile der Einheimischen abgebaut werden, andererseits kann eine induzierte und gewaltsame Migration im Einwanderer auch eine gewalttätige Abwehr gegen eine kulturelle Assimilierung hervorrufen.

Wir sind in unserer Überzeugung gestärkt worden, dass sich uns durch die Einwanderung ein Fenster zur Welt auftut, damit wir sie entdecken und uns von ihr ein neues Bild machen. Sie fordert uns heraus, unser persönliches und soziales Leben, das auf Beziehungen und Begegnungen aufgebaut ist, neu zu gestalten. Die Einwanderung könnte uns zu einer neuen anthropologischen Sicht verhelfen, in der sich Andersartigkeit und Identität bis zu einem gewissem Grad verschmelzen und der Akzent trotz der vielen Unterschiede auf die Zugehörigkeit zur gleichen Menschheit gesetzt wird: „Ich bin der mögliche Andere“, wie Abdelkarim Hannachi sich ausdrückte. Der Verlauf der Integration würde also den Übergang von einer geschlossenen, selbstbezogenen (ethnisch, kulturell, sozial, religiös) zu einer offenen Identität einschließen, die sich erneuert, sich ständig in Frage stellt und in mühevoller und oft anstrengender Begegnung mit dem anderen neu erarbeitet wird. Um eine Gesellschaft der Begegnung aufzubauen, ist es unumgänglich notwendig, sich von der Tyrannei der Identitäten zu befreien.

Es scheint uns äußerst wichtig, mit offenem Herzen und ausgestreckten Händen den Notstand der Migration zu betrachten: nämlich das Phänomen der Einwanderung gemeinsam mit den Einwanderern, ihren leidvollen Erfahrungen und Hoffnungen, ihren Träumen und Verletzungen zu analysieren. Man kann das Phänomen der Einwanderung nicht richtig verstehen, ohne den konkreten Menschen, abseits der Zahlen, in die Augen zu schauen, sich in die Dramatik ihres Lebens hineinzubegeben, diese Realität mitzutragen und sich von ihr mitnehmen zu lassen. Wir sind alle zur Überzeugung gekommen, dass man die Einwanderung nicht wirklich und vollständig verstehen kann, ohne der Opfer zu gedenken, die unterwegs verschwunden sind oder die das Meer verschlungen hat, und ihnen einen Namen und ein Gesicht zu geben.

Vom Gesichtspunkt der Theologie aus gesehen finden wir es richtig, in der Einwanderung ein entscheidendes Zeichen der Zeit zu sehen “… Aber warum könnt ihr nicht diese Zeichen deuten?” (Lk 12,56). Sicher, etwas wird zu einem Zeichen der Zeit dank seiner “messianischen” Bedeutung, insofern es das Potenzial zu befreien, zu vermenschlichen und zu retten hat und fähig ist, eine bessere Zukunft einzuleiten. Wie könnten die Flüchtlingsströme mit ihren Geschichten von Gewalt und Tod das Zeichen für den Übergang des Geistes sein, der alles neu macht? Jene gewaltige Last von Gewalt öffnet uns die Augen für die Realität unserer Zeit als einer Zeit erlittener Gewalt. Das ruft nicht nur berechtigte „Empörung“ hervor, sondern ist zugleich auch ein Gnadenanstoß, der nicht nur die repressive Struktur unserer Gesellschaften anzuklagen und ihre ideologische Natur abzubauen vermag, sondern für unseren Glauben auch einen ganz anderen Horizont eröffnet und einen neuen Weg anbahnt, um Kirche und Mission neu zu überdenken und zu erneuern.

2. Aufzeigen von Wegen für einen Missionsdienst der Comboni-Missionare im Umfeld der Einwanderung

Da es viele praktizierende Christen gibt, die unsere zugewanderten Brüder und Schwestern ablehnen und – wie uns die beiden Mitbrüder Franz Weber und Hans Maneschg mit ihren Beiträgen über “Hinweise zur Migration der europäischen Bischofskonferenzen“ gezeigt haben – stehen die Bischöfe dem Notstand der Einwanderung eher zurückhaltend gegenüber. Ihre Stellungsnahmen sind meistens zweideutig, oft irrelevant und beschränken sich auf fromme Worte und karitative Empfehlungen. Es ist aber sehr erfreulich festzustellen, dass es innerhalb der Comboni-Familie eine ganze Reihe von zum Teil auch mutigen Initiativen zum Wohl von Migranten und Flüchtlingen gibt und sich unsere Gemeinschaften in Europa immer mehr unseren eingewanderten Brüdern und Schwestern öffnen, die aus dem Süden kommen oder vor dem Krieg im Nahen Osten fliehen. Verschiedene Comboni-Gemeinschaften haben Räumlichkeiten für Initiativen der Migranten selbst oder für deren Unterkunft zur Verfügung gestellt. Einige Hausgemeinschaften haben Migranten eingeladen, am Alltag der Gemeinschaft teilzunehmen. Andere haben Initiativen ergriffen, um den Menschen vor Ort die Möglichkeit zu geben, sich mit Einwanderern zu treffen oder mit ihnen bekannt zu werden.

Einige Gruppen von Comboni-Missionaren begeben sich zu den Ankunftsorten der traumatisierten und verängstigten Einwanderer, um sie mit einem freundlichen Blick und brüderlichem Herzen zu empfangen. Andere Comboni-Missionare beschenken sie, bieten ihnen ihre Freundschaft, Begleitung und Hilfe an, auch innerhalb der Aufnahmezentren.

Ermutigt durch diese Beispiele von Öffnung und Teilen haben die Teilnehmer am Symposium versucht, einige gute Praktiken von Gastfreundschaft auszumachen, und Möglichkeiten für unsere Dienste im Umfeld der Migration als Teil unseres Missionsdienstes in Europa aufzuzeigen.

Wir haben uns auf folgende Punkte geeinigt.

Informationsdienst und Ausbildung

Vor allem ist ein Mentalitätswandel dem Phänomen der Einwanderung und besonders den Einwanderern gegenüber dringend notwendig, um Ängste, Vorurteile und Klischees abzubauen und fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen zu neutralisieren. Dazu sind Information und Richtigstellung von Falschmeldungen unerlässlich, die von den Opfern berichtet, Mitleid erweckt, die Sprache ändert und einer kritischen, besonders „selbstkritischen“ Sicht das Wort redet.

Neben der Gesellschaft benötigen auch unsere Gemeinschaften und Comboni-Gruppen Information und Ausbildung. Wir können den Wunsch nach einem Wandel in unseren Beziehungen zu den Migranten nur fördern, wenn wir selbst diesen Wandel als Menschen und als Gemeinschaft mitmachen.

Politische Dimension und öffentliche Wahrnehmung

Es ist notwendig, dass der Einsatz für die Migranten politische Bedeutung gewinnt. Die Leidenschaft, die ethische Spannung und der große Einsatz allein genügen noch nicht. Einem guten Einsatz muss es gelingen, die diskriminierende, politische Handhabung der Migration im schizophrenen Europa zu ändern, das von der Verteidigung der Menschenrechte spricht, aber selbst die Rechte der anderen verletzt, sowie das sozio-ökonomische System in Frage zu stellen, das Ausgrenzung bringt und Auswanderung verursacht. Eine solche Anklage des Systems und der Kultur, auf der das ganze soziale Gefüge steht, und die entsprechende Aktion zu ihrer Umwandlung führen zum Herzen der Mission in Europa und über das Phänomen der Migration hinaus, denn diese ist nur ein besonderer wenn auch relevanter Aspekt jener Mission.

Ein politischer Ansatz erfordert seinerseits, dass unser Eingreifen politisch durch unsere starke Präsenz in den sozialen Kommunikationsmitteln, durch Aktionen und Initiativen von Interessenvertretungen, Lobbyarbeit und durch das Zeugnis von aktiver Aufnahmebereitschaft wahrgenommen wird.

Hausgemeinschaften als Orte von Gastfreundschaft

Auch wenn einige Mitbrüder oder Mitschwestern mit dem Dienst an den Einwanderern beauftragt sind, sollen doch auch die Hausgemeinschaften selbst allmählich und in unterschiedlicher Weise miteinbezogen werden, um schließlich die Hauptverantwortung zu tragen.

Um einen Gesinnungswandel einzuleiten, der zu einer gegenseitigen Gastlichkeit zwischen Einheimischen und Einwanderern führt, ist das Beispiel einer Gemeinschaft wichtiger als ihr Einsatz. Jeder braucht den anderen und jeder ist dem anderen behilflich. Dabei hilft die kulturelle Vielfalt einer Gemeinschaft.

Ein Netzwerk zwischen uns und den anderen aufbauen

Die methodische Zusammenarbeit ist unerlässlich nicht nur, damit unsere Aktion erfolgreich verläuft, sondern bereits zu einer Ikone von dem geworden ist, was wir erreichen wollen: eine Welt gegenseitiger Gastlichkeit.

Wichtig ist vor allem, dass wir uns als Comboni-Familie und im Rahmen der Ortskirche, die wir mit unserer prophetischen Sendung beleben sollen, einsetzen, aber auch mit den Vereinen und Organisationen, die in dem Einzugsgebiet für und mit den Einwanderern zusammenarbeiten. Das Zusammenspiel zwischen unseren und den bereits bestehenden Initiativen in einer Gegend könnte etwas von unserer Originalität zum Ausdruck bringen, indem wir gute Ansätze unterstützen, Lücken schließen, aber auch von schädlichen Praktiken Abstand nehmen.

Die Einwanderer zu Protagonisten des Wandels machen

Teil unserer Originalität als Comboni-Missionare ist sicher “Afrika durch Afrika selbst zu retten”. In unserem Fall heißt das, die Einwanderer zu Protagonisten ihres eigenen Integrationsprozesses und des Aufbaus einer pluralistischen Gesellschaft zu machen.

Das erfordert den Einsatz von unten, das heißt, mehr „mit“ den Einwanderern als für sie zu arbeiten, und ihr soziales Engagement auf dem Weg zur Demokratie und zur Formulierung ihrer politischen Entscheidungen und Maßnahmen zu fördern. Hinhören und Beziehungen werden dadurch zu Prioritäten und grundlegend wird die Arbeit mit den Kindern der Einwanderer, den zukünftigen kulturellen Vermittlern. Der Dienst an den Migranten gestaltet sich so zu einem Dienst der Begleitung.

Koordinierungsstelle der Comboni-Familie

Damit dieser europäische Plan der Comboni-Familie für die Migration Erfolg hat, braucht es auf nationaler und europäischer Ebene ein Koordinierungsteam aus Vertretern der gesamten Comboni-Familie. Neben der Koordinierung der verschiedenen Initiativen würde die Gruppe periodisch diese auswerten und prüfen, in wie weit diese tatsächlich umgesetzt werden, denn Änderungen und Unvorhersehbarkeit sind an der Tagesordnung; die Ziele klar definieren; eine Datenbank über die Einwanderung anlegen, die allen zugänglich ist; nationale und europäische Treffen für jene organisieren, die direkt in diese Arbeit involviert sind.

3. Schluss

“Mission und Migration”: das Symposium von Limone hat aufgezeigt, dass die Migration ein wichtiges Umfeld unserer Mission in Europa darstellt. Aber nicht nur! Es definiert die Mission neu von den Randgebieten her, oder besser gesagt, von den “Nicht-Orten” oder Orten der “Nicht-Existenz”, an die die Einwanderer auf der Suche nach einer “bleibenden Stätte“ verbannt sind.

In Begleitung dieser oft namenlosen Letzten begibt sich die Mission wieder auf den Weg des „Exodus“ aus der imperialistischen Sklaverei des jeweiligen „Ägypten“ und „Babylonien“ hin zum „Gelobten Land“, wo Milch und Honig des Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens fließen.

Die „österliche“ Mission ist angebrochen. Auf den müden und verängstigten Gesichtern der Flüchtlinge, die vor Krieg, Gewalt und Hunger fliehen, entdeckt die Mission das Antlitz des Gekreuzigten. In den Geschichten von Leid und Tod lässt sie die Zärtlichkeit Gottes aufleuchten, der sich schenkt, damit alle das Leben haben, und verkündet, mehr mit Taten als mit Worten, den Gott, der jede Träne abwischt und alles neu macht.