Mittwoch, 19. April 2023
Sprächen die internationalen Medien wirklich über Afrika, bestünde die Gefahr, unsere Gewissen aufzurütteln - also lässt man es lieber bleiben. Davon zeigt sich der Comboni-Missionar P. Maurizio Binaghi überzeugt. „Wenn wir uns der harten Arbeit bewusst wären, die so viele Menschen hier für ihren Lebensunterhalt leisten, würden wir wohl bestimmte Klischees und Oberflächlichkeiten vermeiden“, sagt er im Gespräch mit Radio Vatikan. [Vatican news]
20 Jahre lang wirkte der Italiener Binaghi in den Vororten Chicagos, bevor er entschloss, nach Afrika zu gehen und sich in Kenia um Jugendliche zu kümmern. Das Land im Osten Afrikas bietet einem guten Drittel seiner Bevölkerung, eben den jungen Menschen, kaum Perspektiven.
„Ich habe den Geruch von Müll an mir. Das ist nicht angenehm, aber es ist eine Ehre, ihn an mir zu tragen“: Wir erreichen den Comboni-Priester P. Maurizio Binaghi telefonisch in der Hauptstadt Nairobi. In Kenia hat sich die Bevölkerung in zwanzig Jahren verdoppelt, wobei 35 Prozent der Bevölkerung unter 35 Jahre alt sind.
Doch diese jungen Menschen, die eigentlich die Zukunft der Gesellschaft darstellen sollten, haben nichts Besseres zu tun, als auf den Müllhalden der Stadt nach Verwertbarem zu suchen, seien es Lebensmittel oder andere Abfälle, die sich weiterverkaufen lassen, bis hin zu Plastiktüten. Genau sie stehen im Fokus der Mission, von der uns P. Binaghi berichtet.
Er selbst lebte zwei Jahrzehnte lang in den Slums von Chicago, wo er der einzige Weiße unter Hunderttausenden von Schwarzen war. Nun arbeitet er in den noch ärmlicheren Slums von Korogocho. Den Wechsel nach Kenia habe er nicht als sonderlich traumatisch erlebt, meint der Missionar:
„Denn das hat mir dabei geholfen, noch besser zu verstehen, wie ein bestimmter Teil der Menschheit an den Rand gedrängt und ausgeschlossen wird, von oben herab betrachtet wird.“ Der Italiener war nach Chicago geschickt worden, um Theologie zu studieren – doch dann blieb er 20 Jahre.
20 Jahre im Ghetto
„Ich habe mich dazu entschieden, in die Afro-Ghettos zu gehen, auch um dem treu zu bleiben, was das Charisma von uns Comboni-Missionaren ist, nämlich zu den Armen und Verlassenen zu gehen. Und in der amerikanischen Gesellschaft ist es leider auch heute noch so, dass die afro-amerikanische Gemeinschaft, sicherlich aber gewisse Teile von ihr, nur aufgrund ihrer Hautfarbe stark diskriminiert werden. Ich habe unter anderem vier Jahre lang als einziger Weißer in einem Sozialwohnungsblock unter hunderttausend Afro-Amerikanern gelebt. Es war nicht einfach, aber das war eine Erfahrung, die mich wirklich sehr wachsen hat lassen.“
Schließlich landete er auf eigenen Wunsch in Afrika, wo die von ihm ersehnte Comboni-Spiritualität auf andere, vielleicht direktere Weise mit Leben gefüllt wird. Dabei helfe ihm auch die „amerikanische Erfahrung“: „In Chicago waren die Jungen nicht am Verhungern, obwohl sie innerlich tot waren, anthropologisch tot. Hier in Nairobi gibt es Vitalität, aber es herrscht schreckliche Armut. In Korogocho gibt es die baufälligsten Slums der Hauptstadt“, berichtet er.
Die größte Müllhalde Afrikas
Der Pater erzählt, dass er beschlossen hat, die Altersgrenze bei dem ihm anvertrauten combonianischen Straßenkinderprogramm anzuheben, nicht nur, „weil Kinder in Italien und Europa gut ankommen“, während die Probleme Jugendlicher und junger Erwachsener kaum auf großzügige Resonanz stoßen, sondern auch, weil diese Heranwachsenden in der kenianischen Gesellschaft selbst stark marginalisiert und mit Vorurteilen konfrontiert seien: „Jugendliche gelten schnell als drogenabhängig, polizeiliche Willkür und Schnelljustiz sind an der Tagesordnung. Die Jugendlichen sind für mich, meiner Erfahrung nach, die am meisten Verlassenen.“
Er betont, dass die Rehabilitationsmaßnahmen für diese Jugendlichen alle ein grundlegendes Ziel haben: die Wiederentdeckung der Menschlichkeit. „Ich sage immer, dass es unsere Aufgabe als Missionare ist, zu lieben. Denn Gott liebt uns so, wie wir sind. Weil Jesus uns liebt, sind wir gut, nicht andersherum. Und das ist ein kostenloses Geschenk. Und wir Missionare müssen davon immer Zeugnis ablegen. Dann gibt es auch die Werke, viele gute Werke, aber wenn wir nicht im Innersten das Wohl der Menschen wollen, werden wir zu einfachen Sozialarbeitern. Der Papst sagt das oft. Er sagt, dass man den Geruch der Schafe annehmen muss. Nun, hier haben wir keine Schafe, aber ich trage an mir den Geruch von Unrat, von brutalster Armut Und es ist eine Ehre, ihn an mir zu haben, auch wenn er nicht angenehm ist.“
Dabei übertreibt der Missionar kaum: denn er lebt mit seinen Schützlingen bei der Mülldeponie von Nairobi, die vielleicht die größte in ganz Afrika ist. Rund sechs Millionen Menschen entledigen sich dort achtlos aller Arten von Abfall, von Giftmüll bis zum Plastik. Zwischen 2500 und 3000 Menschen leben von den Abfällen der anderen. Sie sammeln ein, was sie können, um es zu verkaufen oder zu essen.
„Ich habe einmal den (italienischen, Anm.) Journalisten Gad Lerner hierhergebracht, um die Situation zu dokumentieren. Der Müll stand uns bis zu den Knien. Ein kleiner Junge hatte die Reste eines Sandwiches gefunden, das vermutlich aus einem Flugzeug stammte. Er setzte sich hin und wollte es gerade essen, doch vorher betete er. Er dankte dem Herrn für das Essen, das er hatte. Ich werde nie den tiefen Glauben dieses kleinen Jungen haben, der wahrscheinlich nicht in die Kirche geht, der vielleicht schon tot ist, aber der, als er den Abfall aß, ,Danke, Herr‘ sagte. Das ist die Bekehrung, von der der Papst oft spricht. Dass wir uns von diesen ,Ausgegrenzten‘ bekehren lassen, die so reich und schön im Inneren sind.“
Doch solche Informationen scheinen im westlichen Mainstream kaum Interesse zu erregen. Warum? Für den Missionar liegt die Antwort auf der Hand: „Wenn die großen Nachrichtenangebote der Sache wirklich auf den Grund gehen würden, würde sich jeder, der ein Gewissen hat, Fragen stellen. Es ist besser, Afrika zu beurteilen, wenn es Unruhen, große Naturkatastrophen, Chaos gibt. Aber das tägliche Leben Afrikas, das auf seine Weise sehr fleißig ist, das trotz allem über das bloße Überleben hinausgehen will, interessiert nicht. Wenn wir wüssten, wie sehr sich die Menschen hier anstrengen, um zu leben, dann hätten wir die Bescheidenheit, bestimmte Ungeheuerlichkeiten, die wir über Einwanderer hören, nicht zu sagen. Gewisse Klischees würden wir aus Anstand vermeiden. Denn sie schaden nicht nur der Würde der Einwanderer, sondern auch derjenigen, die diese Dinge sagen. Wenn man sie von hier aus hört, Dinge wie: ,helfen wir ihnen doch in ihrem eigenen Land‘ und so weiter, sind sie von einer Banalität, die ich nicht beschreiben kann.“
Ganz anders sieht es aus, wenn die Menschen sich vor Ort von den Zuständen und dem Leben auf den Müllhalden überzeugen: „Da fließen dann die Tränen. Wir sprechen also nicht über Afrika, denn das würde uns in eine Krise stürzen. Ich bin seit 1994 nicht mehr in Italien, ich bin nicht übermäßig informiert über die Angelegenheiten dort, aber was mich wirklich verstört, ist die Oberflächlichkeit, die Verharmlosung und vielleicht auch die Ignoranz.“
Der italienische Staatschef war erst vor Kurzem auf Staatsbesuch in dem Land und würdigte es als „tugendhaftes Beispiel“ für die Region am Horn von Afrika, die zu den kritischsten der Welt gehört. Tatsächlich herrscht in Kenia eine gewisse Stabilität, bestätigt der Missionar Binaghi. Doch die Spannungen, die das Land ebenfalls erlebt, erreichten die internationale Öffentlichkeit nicht, beklagt er.
So kam es im März etwa drei Wochen lang jeden Montag und Donnerstag in Nairobi zu teils gewaltsamen Protesten, die in vielen Fällen zu Zusammenstößen, Steinwürfen und verschiedenen Zerstörungen führten. Hunderttausende nahmen daran teil, Anfang April wurde eine Gesprächspause für die Proteste vereinbart. „Die Opposition geht auf die Straße, weil sie die Niederlage bei den Wahlen im letzten Jahr nicht akzeptiert“, erläutert Binaghi. „Es wird nicht darüber gesprochen, weil es besser ist, es zu verschweigen, auch für Touristen. Dennoch sind Tausende betroffen. Die Regierung versucht, die Proteste einzudämmen, ohne übertriebene Repressionen anzuwenden.“
Friedenspilger mit starken Signalen
Papst Franziskus wiederum habe bei seiner jüngsten Afrikareise „als Friedenspilger“ starke Signale ausgesendet, so der Missionar. Binaghi verweist auf die soziale Instabilität im Kongo und im Südsudan. Die beiden Länder gehören zu den ärmsten der Welt, und das, obwohl es gerade im Kongo wertvolle Rohstoffe gibt, die westliche Industriegiganten zu geringen Preisen ausbeuten. Ein Schicksal, das viele afrikanische Länder teilen, in dem die Mehrheit der Bevölkerung im Elend lebt und unter der Korruption vieler Regierungen und der starken sozialen Ungleichheiten leiden.
In Kenia etwa genießen nur zwei Prozent der Bevölkerung einen gewissen Wohlstand, sagt der Comboni-Missionar. „Der Papst hat einige wirklich starke Worten und Gesten geliefert. Aber er hat die Pflicht, unsere Gewissen aufzurütteln und uns in eine gewisse Krise zu stürzen, uns an unseren Glauben zu erinnern und wehe uns, wenn wir uns nicht in Frage stellen ließen, wenn uns bestimmte Dinge nicht störten. Es ist eine moralische und soziale Sünde, sich an bestimmte Dinge zu gewöhnen.“
Wichtige Unterstützung durch Freiwillige
Das wahre Gesicht Kenias zeigt sich also nicht so sehr in den touristischen Attraktionen oder den Rekorden der einheimischen Sportler. Viele Nichtregierungsorganisationen setzen sich dafür ein, Hunderte von jugendlichen „Parkplatzwächtern“, die niemals Arbeit finden würden, von der Straße zu holen. „Sie streifen in teils höchst kriminellen Banden durch die Straßen, viele werden radikalisiert, nach Somalia zu den Al-Shabaab-Milizen gebracht und dort terroristisch ausgebildet", so der Pater. „Wir machen uns mit ihnen auf den Weg, um ihre Würde wiederzufinden und ihnen neue Hoffnung zu geben. Wenn möglich, integrieren wir sie wieder in die Schule oder bringen sie dazu, einen Beruf zu erlernen.“
Eine wichtige Unterstützung dabei kommt von der italienischen Vereinigung GiacomoGiacomo, die seit 2007 Projekte für die Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durchführt: eine Zusammenarbeit, die von Freiwilligen vor Ort koordiniert wird, die das ganze Jahr über in den Slums von Nairobi arbeiten. Im Lauf der Jahre hat die Vereinigung dazu beigetragen, den Bau von drei Schulen zu vollenden, die von den Comboni-Patern und den evangelischen Marienschwestern betrieben werden.
„Eine von diesen Schulen, die GiacomoGiacomo praktisch zweimal aufbauen musste, wird von 400 Grundschulkindern besucht, die ansonsten keine Schulausbildung bekämen! Die Vereinigung leistet auch wunderbare Arbeit mit Frauen, beispielsweise in den Slums von Bangladesch. Es gibt also viele Menschen guten Willens. Allerdings: Gutes zu tun, muss auch gut gemacht sein. Denn selbst mit den besten Absichten bezieht man die Bevölkerung oft nicht wirklich mit ein. Haben wir die Demut, zuzuhören? Um zu verstehen, dass wir nicht die Protagonisten sind? Wir sind hier, um sie zu begleiten, um bei ihnen zu sein. Sie sind es, die den Weg vorgeben müssen.“
Pater Maurizio appelliert, Afrika mit dem Respekt zu betrachten, den es verdient. „Normalerweise, wenn wir jemand treffen, den wir nicht kennen, siezen wir ihn. Wenn du einen Einwanderer triffst, duzt du ihn… Diese Verletzung der Würde…“ Das diesem Verhalten zugrundeliegende Vorurteil müsse man sich bewusst machen, betont der Missionar. Der ungezwungene Blick auf die Völker, die auf den verschiedenen Breitengraden des afrikanischen Kontinents lebten, helfe dabei, „keine voreiligen Vergleiche anzustellen. Vielfalt bereichert, statt zu verarmen. Wir müssen uns von der Vielfalt umarmen lassen, ohne Angst.“
(Vatican news)